Katsikas – wenn der Himmel einstürzt

Der vergangene Samstag begann in den Werkstätten von Habibi.Works wie gewohnt produktiv und fröhlich. Gegen 15 Uhr jedoch erreichten uns erste, beunruhigende Meldungen aus dem nahegelegenen Camp Katsikas.

Was war passiert?

Ein paar kurze aber heftige Windstöße hatten einen Großteil der Überdachungskonstruktion, die als Sonnenschutz über den neuen Zelten des UNHCR aufgestellt worden waren, aus den Verankerungen gerissen und zum Einsturz gebracht. Die Dachstruktur besteht aus grünen Netz-Planen, die den Bewohnerinnen und Bewohnern ein bisschen Schatten spenden sollten. Gehalten werden die Netze von Betonpfeilern und im Boden verankerten Stahlseilen.

Das raue und feuchte Klima der Region Ioannina, genauer gesagt der offenen Flächen des Vorortes Katsikas, waren von Anfang an nicht der geeignete Ort, um Familien in Zelten unterzubringen. Die offensichtlichen Probleme werden nun im Herbst noch offensichtlicher. Erst kürzlich kam ein besorgter Vater spät nachts in die Werkstätten von Habibi.Works und fragte nach einem Heizlüfter und Decken, um seine drei Töchter gegen die Kälte zu schützen. Wir haben ziemlich konkrete (und ziemlich unschöne) Vorstellungen davon, in welche Richtung sich die Dinge in den nächsten Wochen entwickeln werden – und wir haben nicht die Mittel, diesem wachsenden Bedarf angemessen zu begegnen.

Nur Wenige haben jedoch damit gerechnet, dass bereits an einem sonnigen Tag so konkreter Anlass zur Sorge und eine tatsächliche Gefahr für die Menschen im Camp bestehen würde.

Starke Windböen erfassten die grünen Netze wie Segel und rissen deren Verankerungen aus dem Boden. Die Betonpfeiler brachen wie Zahnstocher. Bei einem Gewicht von je 100 Kilogramm und einer Länge von 3 Metern werden die Pfeiler zur tödlichen Gefahr. Über 20 Pfeiler stürzten um, viele weitere wurden sichtbar verformt.

Shades hanging

Innerhalb von Sekunden wurden die Leute in den Zelten unter den endlos langen Netzen begraben. Betonpfeiler stürzten direkt neben spielenden Kindern ein, Betonbrocken fielen auf Zelte und Metalldrähte peitschten durch die Luft. Eltern riefen nach ihren Kindern, während andere versuchten die Brände zu löschen, die durch das herabfallende Netz auf den Gaskochern vor den Zelten entstanden. Wie durch ein Wunder wurde dabei niemand (wirklich: NIEMAND) verletzt. Wir können es kaum glauben.

Buggy smashed

Wenn man sich die Situation genauer anschaut, dreht sich einem der Magen um. Ein syrisches Baby namens Joad saß in seinem Buggy, als ein Betonpfeiler 10 cm neben ihm umstürzte und eines der Räder des Kinderwagens unter sich begrub. Durch den Aufprall wurde Joad aus seinem Kinderwagen herauskatapultiert. Er hat keinen sichtbaren Schaden davongetragen und konnte eine halbe Stunde später sogar wieder lachen.

Stellt euch vor…

Stellt euch vor, was alles hätte passieren können… oder tut es vielleicht lieber nicht. Konzentrieren wir uns stattdessen auf folgende Frage: Wie und warum konnte es überhaupt so weit kommen? Bei einer generellen Betrachtung der Situation kommt zu allererst die Frage auf, wieso Familien (häufig auch Frauen, die alleine mit ihren Kindern reisen) über sieben Monate in Zelte gesteckt werden, ohne dass ein sichtbares Ende für diesen Zustand in Sicht wäre– in Europa, in Ioannina! In einer Stadt, in der hunderte Apartments für unter 300 Euro im Monat nur einen Mausklick entfernt sind. Das wäre wahrscheinlich der einfachste Weg, vom Krieg gezeichnete Menschen willkommen zu heißen und zu integrieren und zur gleichen Zeit europäische Gelder den finanziell geschwächten Griechen zukommen zu lassen. Nicht öffentlichter Berechnungen, einer der größeren NGOs vor Ort, zufolge ist Nichts teurer, als die Unterbringung der Geflüchteten in einem Camp. Es wäre sogar günstiger, jede und jeden Einzelnen von Ihnen in einem 4-Sterne-Hotel unterzubringen, statt ein Camp aus Zelten in einer so feuchten und rauen Klimazone zu errichten. Entschuldigt  bitte die vorgreifende aber auf den Punkt gebrachte Schlussfolgerung: Das ist ignorante Politik.

Aber lasst uns nicht mit diesem Thema anfangen, sondern uns stattdessen fragen: Wie konnte es zu diesem Vorfall kommen? War es nur eine Laune der Natur? Viele Ingenieure unter den Camp-Bewohnern, Experten und im Grunde jeder, der diese eigenwillige Dachstruktur über den brandneuen Zelten hängen sah, zweifelte deren Robustheit seit Monaten an. Seit Wochen rissen sich immer wieder große Teile der Plane aus den Verankerungen und schlugen lautstark gegen die Zelte, sodass an Schlaf für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr zu denken war. Aber heute wurde aus einer einzigen Böe eine lebensgefährliche Bedrohung für hunderte Menschen.

Betonpfeiler? Nicht wirklich.

Metal Wires

Betrachtet man den Schaden genauer wird Folgendes ersichtlich:

  • Die Plane wurde wie ein Segel vom Wind erfasst und zog mit enormen Kräften an der Dachstruktur.
    • Das bauchige Design bot dem Wind eine extrem große Angriffsfläche
    • Anmerkung: Hat überhaupt jemand überlegt, wie das Gerüst im Winter den Schneemassen standhalten soll?
  • Die schweren Stahlverankerungen wurden innerhalb kürzester Zeit aus dem steinigen Boden herausgerissen.
    • Ohne den Halt der Stahlseile konnten die Betonpfeiler dem Wind nicht standhalten
  • Die Pfeiler brachen wie Zahnstocher
    • Warum? Wieso, konnten sie die Lasten nicht tragen oder sich wenigsten nur verbiegen, anstatt zu brechen und dadurch lebensgefährlich zu werden?

Mit Blick auf dieses Drama, wird offensichtlich: Diese Betonteile waren keine Pfeiler! Sie wirken eher wie lange Steinelemente, mit denen man Bordsteine baut. Statt richtigen Metallstäben sind in dem Beton nur gedrehte Metalldrähte zu finden. Klar ist: Ohne solide Metallstäbe kann sich die Konstruktion auch nicht biegen und bricht stattdessen unter der kleinsten seitlichen Belastung zusammen. Hier handelt es sich also nicht um Materialermüdung oder mangelnde Materialqualität sondern um eine beinahe tödliche, falsche Wahl der Materialien an sich.

Banalität oder ein korruptes System      

Wir überlassen es an dieser Stelle den Lesenden darüber zu urteilen, ob es sich hierbei um einen fahrlässigen Fehler eines professionellen Bauunternehmens handelt, oder ob es ein weiteres Beispiel für Korruption und Gier zu Lasten von Hilfsbedürftigen ist. Man bedenke, dass die Konstruktion von Ingenieuren entwickelt wurde. Schon zu Beginn der Planung gab es laute Stimmen von Ingenieuren aus dem Camp und anderen NGOs, die das Bauvorhaben kritisierten. Diesen Stimmen wurde kein Gehör geschenkt. Und selbst nach dem heutigen Tag haben wir viel Grund zur Annahme, dass die Botschaft mit der dringenden Aufforderung zu handeln nicht ankommt – Warum?

Es ist ja nichts Schlimmes passiert, richtig?

Schon morgen wird man nicht mehr viele Spuren des beinahe geschehenen Unglücks finden. Mitarbeitende des IOM waren sehr bemüht, schnellst möglich die grünen Netze aufzurollen – für deren weitere Nutzung. Die Betonpfeiler wurden am darauffolgenden Tag (Sonntag) entfernt. Manche mögen es schnelle Aufräumarbeiten nennen. Andere Beseitigung von beschämenden Beweisen.

Nothing happened

Wenn man so will, haben auch wir unseren Teil zu diesem abartigen Spiel beigetragen, indem wir kurz nach dem Vorfall begannen, die grünen Netze von den Betonpfeilern zu entfernen. Unsere Intention war es, die Personen in den Zelten vor weiterem Schaden zu bewahren. Gleichzeitig nahmen wir damit jedoch auch Druck zu unmittelbaren Handlungen von den Verantwortlichen (Europäische Union, Staat, Armee, Polizei, IOM und andere große Organisationen). Indem wir sofort tätig werden und die geflüchteten Menschen nicht ihrem Schicksal überlassen, übernehmen wir selbst eine Verantwortung, die eigentlich von öffentlicher Seite getragen werden sollte – ohne dass wir im Gegenzug dafür ein Mitspracherecht in Entscheidungsprozessen erhalten würden. Wir machen uns zu Handlangern, die entweder unliebsame Arbeiten übernehmen oder als Sündenbock für Misserfolge herhalten müssen. Es ist einfach, die Projekte kleiner Organisationen aufgrund ihrer mangelnder Professionalität, ihrer begrenzten finanziellen Mitteln und dem mangelnden Schutz für die Beteiligten bloß zu stellen. Nun sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir die großen Organisationen, ihre Handlungen und ihre Professionalität häufiger in Frage stellen sollten. Wo ist der Schutz für die Geflüchteten in abgelegenen Bergregionen?? Wo ist der Schutz für Familien, die monatelang dem kalten Wetter ohne feste Behausung ausgesetzt sind? Und ja – wo ist der Schutz für die Menschen die unter dieser schlecht konstruierten Dachstruktur leben mussten?

Hier stehen wir nun als besorgte Bürgerinnen und Bürger Europas, denn wir fühlen uns mitverantwortlich für das Wohlergehen der Menschen im Camp. Wir fordern die zuständigen Organisationen, namentlich IOM Griechenland und UNHCR Griechenland dazu auf, folgende Fragen zu beantworten:

  • Wer waren die Ingenieure der Dachstruktur?
  • Wer hat die Auswahl der Baumaterialien überwacht?
  • Wie viel Geld wurde für die Konstruktion ausgegeben?
  • Wurden die gleichen oder ähnlichen Konstruktionen auch an anderen Stellen gebaut?
  • Kann uns versichert werden, dass andere Anlagen oder Aufbauten höheren Qualitätsstandards entsprechen?
  • Gibt es einen Notfallplan für alternative Behausungen, im Falle von Zwischenfällen wie den heutigen? Die Menschen hätten ohne die Unterstützung der kleineren Organisationen nicht in ihren Zelten übernachten können.

Damit sich die Situation endlich verbessert und damit das Vertrauen der Campbewohner wiederhergestellt werden kann, fordern wir höflich, aber bestimmt, Antworten auf diese Fragen. Wir wiederholen unsere Bereitschaft zur Kooperation, wenn die Leute endlich in Behausungen untergebracht werden, die diesen Namen auch verdienen und wir aufhören, Probleme zu erschaffen, die entstehen, wenn man in einem entwickelten Land wie Griechenland anfängt, Menschen in Zelten unterzubringen.

Florian Horsch, on behalf of Soup and Socks e.V.

Hinweis: Unsere Wahrnehmung der Situation in Katsikas mag die Haltung anderer Individuen, größerer und kleinerer Organisationen widerspiegeln oder nicht. Bitte ziehen Sie keine falschen Schlüsse und fragen Sie einzelne Beteiligte nach individuellem Feedback zu den geschilderten Geschehnissen oder dem generellen Kontext der letzten sieben Monate. Vielen Dank.

 

the responsible parties who are active in the field, namely IOM Greece and UNHCR in Greece to answer the following pressing questions:

  • Who did the engineering concept of the shades?
  • Who monitored the contractor with their choice of building materials?
  • How much money was accounted for the complete project and more importantly per pillar? 
  • Are there any other sites where similar shade constructions were implemented?
  • Can you guarantee that other installations in Greek camps meet higher standards?
  • Are there emergency plans for housing, for cases like today? People couldn’t have slept in their tents without the intervention of the small NGOs (by providing man power and equipment).

We politely, but urgently demand answers to those questions in order to restore the trust of the people from the camp, us as involved individuals and on behalf of our small organisations towards the effort being undertaken to actually solve the ongoing situation of thousands in Greece.

We also repeat our offer for full cooperation, in case we can finally move people over to better housing and stop creating problems artificially, which come along with building a camp in a developed country like Greece.

Florian Horsch, on behalf of Soup and Socks e.V.

Disclaimer: Our perspective on the situation in Katsikas may or may not represent the view of other individuals, small or big NGOs. Please don’t draw conclusions and ask each entity on its own for feedback on what has happened today and on a bigger picture in the last seven months. Thank you.

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