Den Finger in die Wunde legen

 

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Sowohl große als auch kleine internationale Organisationen sind in der griechischen Region Epirus im Einsatz, um an der menschenwürdigen Versorgung von Geflüchteten zu arbeiten. Oder es zumindest so aussehen zu lassen. Ein Blick hinter die Kulissen aus unserer Perspektive.

Was die großen von den kleinen internationalen Organisationen unterscheidet, ist in vielen Fällen nicht etwa Professionalität, sondern der Zugang zu Informationen und Geld, zwei wichtigen Ressourcen wenn es um Macht und Einfluss geht. Wenn eine große Organisation über beide Ressourcen verfügt, aber mit beiden verantwortungslos umgeht, ist das Grund für einen Aufschrei. Die Empörung in Europa bleibt jedoch meist aus – möglicherweise weil niemand berichtet. Oder weil die Berichte auf taube Ohren stoßen. Wenn man sich den Umgang mit der Situation in Griechenland seit März 2016 anschaut, dann wird deutlich, dass nie wirklich nach angemessenen Lösungen für die Lage und die Zukunft der Geflüchteten gesucht wurde. Werfen wir einen Blick nach Katsikas, in der Region Epirus.

Die Menschen hier schlafen über Monaten hinweg in Zelten. Sie kochen über offenem Feuer. Sie waschen ihre Wäsche und ihr Geschirr mit kaltem Wasser und von Hand. Sie nutzen unzumutbare Sanitäre Anlagen. Sie stehen Schlange. Für Essen. Für Kleidung. Für Medikamente. Das Bild, das so entsteht, erinnert an Krisengebiete. Es zeigt die Menschen in einer Situation grundlegenden Mangels. Dabei ist dieser Mangel vollkommen unnötig und künstlich herbeigeführt. Denn wir befinden uns nicht in einem Krisengebiet, sondern in Griechenland. Im Grunde sind alle Ressourcen vorhanden, die eine würdige Unterbringung der Menschen erlauben. Allein in der nahe gelegenen Stadt Ioannina stehen laut Internetrecherche weit über 1000 leere Wohnungen zur Miete. Menschen hier unterzubringen, wäre nicht nur menschenwürdiger gewesen, sondern hätte auch einen Teil der Gelder der finanziell belasteten griechischen Bevölkerung zukommen lassen. Wer nun denkt, das wäre teurer gewesen, der irrt. Tatsächlich hätte es kaum eine teurere Lösung geben können, als das Feld in Katsikas, auf dem die Betroffenen nun leben, „bewohnbar“ zu machen.

Doch von Seiten der lokalen, nationalen und europäischen Politik wurde es versäumt,  die Strukturen bereit zu stellen, die ohnehin existieren – leerstehende Gebäude. Weil sich niemand eingestehen wollte, dass die Anwesenheit der Geflüchteten kein vorübergehender Ausnahmezustand ist. Weil niemand Verantwortung übernehmen, unbequeme Wahrheiten aussprechen und sich den Unmut künftiger Wählerinnen und Wähler zuziehen will.  

Die großen Organisationen haben es versäumt, nachhaltig und langfristig planen – und schlittern von einer improvisierten Lösung in die nächste: Provisorische Zelte. Auf einem Gelände, das für Zelte nicht ausgelegt ist. Ohne Abwassersystem oder Elektrizität. Böden für die provisorischen Zelte. Neue Zelte. Dann die Erkenntnis, dass Menschen im Winter in dieser Region der Welt nicht in Zelten leben können. Und immer wieder unhaltbare Versprechungen, die dazu führen, dass Organisationen wie das UNHCR vor den Geflüchteten, den kleinen Organisationen und der lokalen Politik in dieser Region an Glaubwürdigkeit verlieren. Die provisorischen Maßnahmen, die ergriffen wurden, sind im besten Falle kurzsichtig. Und im schlimmsten Falle fahrlässig. Zwei kurze aber konkrete Beispiele aus der Region Epirus:

Aus dem Camp Katsikas wurden vor einigen Wochen Personen, die als besonders schutzbedürftig eingestuft wurden, in Hotels umgesiedelt. Auf den ersten Blick eine vernünftige Maßnahme. Doch im Gegensatz zu ihrer vorherigen Unterbringung haben die Menschen hier keinen Zugang mehr zu öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Einkaufsmöglichkeite. Die nächsten Städte, in denen es Krankenhäuser und Apotheken gibt, sind über 50 Kilometer entfernt. In diese entlegene Gegend wurden die Hochschwangeren verbracht, die chronisch Kranken und die Ältesten. Die medizinische Versorgung dieser Menschen, gerade noch Kriterium ihrer Schutzbedürftigkeit, ist ersatzlos entfallen. Den Mitgliedern der bisher tätigen Organisationen aus Katsikas, die nach wie vor bereit sind, bei der täglichen Versorgung und der medizinischen Begleitung zu unterstützen, ist der Zutritt zu den Hotels bisher untersagt.

Das zweite Beispiel zeigt die Konsequenzen fahrlässiger Maßnahmen anhand der Geschehnisse in Camp Katsikas am 08.10.2016. Im Sommer waren von IOM grüne Netzbahnen über die neuen Zelte gespannt worden, als Sonnenschutz in den heißen Monaten. Am vergangenen Samstag erfasste eine Windböe den Netzstoff wie ein Segel und riss die meterhohen Betonpfeiler, an denen die Stoffbahnen befestigt waren, aus dem steinigen Boden. Innerhalb von Sekunden stürzten die schweren Betonblöcke auf und zwischen Zelte, zerbarsten, Menschen wurden unter den meterlangen Stoffbahnen begraben und Brände entflammten dort, wo das grüne Netz auf die Campingfeuer niederging. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Die Tatsache, dass hier nicht nur eine unzureichende Lösung für die Unterbringung der Menschen gefunden, sondern durch mangelnde Sorgfalt bei der Konstruktion eine ernsthafte Gefahr entstand, ist erschreckend. Noch erschreckender ist jedoch die Tatsache, dass auch diese Gefahr noch nicht ausreicht um den Verantwortlichen einen konkreten Handlungsbedarf aufzuzeigen und eine angemessene Reaktion hervorzurufen. Offensichtlich muss erst ein Ernstfall durch die Medien gehen, damit der Druck zu Handeln groß genug ist.

Was muss in diesem absurden Kontext die Rolle der kleinen, unabhängigen Organisationen sein, die im Alltag direkt an der Seite der Betroffenen handeln?  Wir haben den Aufschrei versäumt. Wir sind den großen Organisationen von einer improvisierten Lösung in die nächste gefolgt, immer in dem tapferen Versuch, im Alltag zu retten, was zu retten ist. Wir haben unsere Zeit und Energie dafür eingesetzt, Lücken zu füllen und Verantwortungen zu übernehmen, die nicht die unseren sind. Gleichzeitig werden wir nicht an Entscheidungsprozessen beteiligt, werden nicht ernst genommen und in manchen Fällen (vor allem in denen, in denen wir laut werden und Öffentlichkeit herstellen) auf unsere Plätze in den hinteren Rängen verwiesen. Aber das genau ist die Antwort auf die oben gestellte Frage. Das muss unsere Rolle sein. Wir müssen den Finger in die Wunden legen, die durch die Verletzung des gesunden Menschenverstandes entstehen und neben der konkreten Unterstützung vor Ort Öffentlichkeit herstellen. Was wir hiermit tun. 

 

Neben der konkreten Unterstützung vor Ort durch das Projekt Habibi.Works ist es uns wichtig, über die Lage vor Ort aus erster Hand zu informieren. Innerhalb der oft frustrierenden Rahmenbedingungen etwas Sinnvolles, Positives, Nachhaltiges auf die Beine zu stellen, ist eine Herausforderung. Gleichzeitig gibt es unendlich viel, was uns motiviert: Die Erkenntnis, wie dringend es notwendig ist, handfeste Lösungen anzupacken. Unsere Empörung, die uns dazu antreibt, nicht nachzulassen. Die Eigeninitiative der Menschen, die uns von ihren Ideen erzählen. Die unglaublichen Talente, mit denen wir überrascht werden. Die unzähligen schönen Momente, in denen wir sehen, dass funktioniert, was wir anstoßen: Unfolding potential. It works. 

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